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Herkunftseltern Experteninterviews

Ein Kind freizugeben, muss nicht eine Frage des Geldes sein. Manche können sich einfach nicht vorstellen, Eltern zu sein. Christine Lindenmayer arbeitet im Jugendamt Stuttgart und berät seit vielen Jahren Frauen, die ihr Kind zur Adoption freigeben möchten.

Frau Lindenmayer, wie finden diese Frauen zu Ihnen?

Christine Lindenmayer: Es gibt Frauen oder auch Paare, die sich direkt telefonisch bei uns melden. Sie haben die Telefonnummer meist durch eine Hilfestelle erhalten, zum Beispiel von einer Frauenärztin bzw. einem Frauenarzt, einer Schwangerschaftsberatungsstelle oder vom Allgemeinen sozialen Dienst. Manchmal kommt der Anruf aus der Klinik, nachdem eine Frau entbunden und beschlossen hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben.

Wie verläuft ein Beratungsgespräch in der Regel?

Christine Lindenmayer: Ich beginne das Gespräch häufig mit der Anmerkung, dass es sicher sehr schwer war, hierherzukommen. Ich frage, ob ich zuerst etwas über Adoption allgemein erzählen soll oder ob mein Gegenüber zuerst reden möchte. Meist wollen die Frauen, dass ich erst einmal etwas über Adoption erzähle und dann berichten sie von ihrer Situation, ihren Wünschen, Hoffnungen und Absichten.

Eine Beratung durch Sie erfolgt grundsätzlich ergebnisoffen. Wie beraten und unterstützen Sie die Frauen?

Christine Lindenmayer: Ich nenne die Möglichkeiten, die es gibt, und betone, dass ich die Frau unter keinerlei Druck setzen möchte. Wenn die Frau es wünscht, kann das Kind nach der Entbindung sofort oder acht Wochen später zu Adoptiveltern kommen. Das Kind wird so lange in einer sehr geeigneten und fähigen Pflegefamilie aufgenommen. Frühestens nach acht Wochen kann eine Mutter das Kind notariell zur Adoption freigeben. Das erleichtert die Frau meist sehr. Ihr hilft es zudem, dass sie über die zukünftigen Adoptiveltern mitentscheiden kann. Sie kann sagen, was ihr wichtig für ihr Kind ist und bei uns zwischen drei daraufhin ausgewählten Paaren anhand von Akten und Bildern entscheiden. Das ausgewählte Paar kann sie auch kennenlernen.

Was wissen Sie über die Rolle der Väter?

Christine Lindenmayer: Wenn die Mütter bereit sind, die Väter zu benennen, werden sie in das Verfahren selbstverständlich miteinbezogen. Ich empfinde die Situation als positiv, wenn beide gemeinsam diese Entscheidung tragen. Es ist ein guter Start, wenn das Elternpaar gemeinsam kommt und beide Elternteile dann acht Wochen nach der Entbindung ihre notarielle Einwilligung zur Adoption geben.

Wie geht es den Müttern in dieser Zeit?

Christine Lindenmayer: Erst einmal sind die Frauen sehr erleichtert, wenn sie merken, dass wir keinerlei Druck ausüben. Sie finden es auch gut, dass sie die Adoptiveltern mit aussuchen können. Sie fühlen sich dadurch gleichberechtigt, reden mit – es wird nichts über ihren Kopf entschieden. In aller Regel wird die Entscheidung von ihnen jedoch nicht nach außen kommuniziert. Höchstens mit ganz engen Vertrauten wird gesprochen, in seltenen Fällen auch mit den eigenen Eltern. Aber in der Regel versuchen die Frauen, die Adoption geheim zu halten, weil in der Bevölkerung oft keine Akzeptanz vorhanden ist, wenn jemand sein Kind zur Adoption freigibt.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Christine Lindenmayer: Viele sagen, die Situation in Deutschland sei so gut, dass keiner sein Kind zur Adoption freigeben müsse. Und ein Kind gehöre nun einmal zu seinen Eltern. Es ist für viele nicht nachvollziehbar, dass es im Leben Situationen gibt, die einfach nicht gut für Mutter und Kind sind. Aus unterschiedlichen Gründen heraus – und das muss nicht unbedingt eine Frage des Geldes sein. Häufig hängt die Entscheidung mit der eigenen Elternbeziehung zusammen. Manche können sich einfach nicht vorstellen, selbst Eltern zu sein. Andere Frauen wiederum fühlen sich psychisch labil und angeschlagen und haben kein Vertrauen in sich selbst. Und für manche ist es auch eine Frage der Lebensperspektive und abhängig davon, was sie im Leben noch vorhaben. Und es ist auch eine Frage der Beziehung zum Vater des Kindes.

Finden Sie, dass die Frauen ihre Entscheidung verantwortungsvoll treffen und damit Respekt verdienen?

Christine Lindenmayer: Absolut. Wenn jemand die Entscheidung trifft, ein Kind auszutragen, dann ist das von der Gesellschaft in jedem Fall als positiv zu sehen. Und wenn eine Frau sagt: „Ich bringe das Kind zur Welt, aber ich bin nicht in der Lage, es selbst großzuziehen, ich gebe ihm noch das mit, was ich ihm mitgeben kann“, dann gibt es für mich überhaupt kein Verständnis dafür, dass über diese Frauen der Stab gebrochen wird. Keine Frau, die ich in den über 30 Jahren kennengelernt habe, hat ihr Kind leichtfertig zur Adoption freigegeben. Alle machten einen schweren Prozess durch. Sie haben die Situation durchdacht und für sich, aber auch für ihr Kind entschieden. Das muss auch eine Würdigung erfahren.

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesfamilienministeriums im Rahmen des Magazins „Blickwechsel Adoption“ geführt.