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Wissen, wer ich bin

Jörg Maywald ist Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind. Er hat eine Professur an der Fachhochschule Potsdam inne und ist Sprecher der National Coalition Deutschland – des Netzwerks zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.
Im Interview spricht er über die Bedeutung von Herkunft und Biografie für die Ausbildung der Identität und darüber, dass die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte für Menschen, die adoptiert wurden, oft schwierig ist.

Was erschwert die Suche nach den eigenen Wurzeln?

Jörg Maywald: Einerseits liegen Adoptierten häufig nur wenige Informationen über ihre Herkunft vor. Das bedeutet, dass sie sich intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssen und dass die Informationsbeschaffung eine Arbeit mit Hindernissen sein kann. Andererseits sind die Kinder besorgt, dass sie mit ihren Fragen den Adoptiveltern wehtun. Oft führt dies dazu, dass die drängenden Fragen gar nicht erst gestellt werden. Es bleibt eine Leerstelle im Wissen über sich selbst. Mit solchen Lücken kann eigentlich niemand gut leben und daher werden sie durch Fantasie gefüllt. Die leiblichen Eltern werden einmal idealisiert und im nächsten Moment herabgewürdigt. Es entsteht eine Ambivalenz zur eigenen Lebensgeschichte.

Kann man glücklich werden, ohne zu wissen, woher man kommt?

Jörg Maywald: Es gibt viele gute Beispiele von Menschen, die kaum oder gar keine Informationen über ihre Herkunft haben und sehr stabile Persönlichkeiten sind. Man kann auch dann ein glücklicher und erfolgreicher Mensch werden, wenn man nichts über seine Wurzeln weiß. Aber unter diesen Umständen fällt es schwerer.

Worauf kommt es dabei besonders an?

Jörg Maywald: Die Erfahrungen und Beziehungen, die Kinder nach der Adoption gemacht haben, sind von großer Bedeutung. Hinzu kommen genetisch mit bedingte Faktoren wie Intelligenz oder ein eher extrovertiertes Temperament und dann spielen psychologische Faktoren wie Resilienz und Erfindungsreichtum eine Rolle.

Wie kann man Kinder in den Phasen, in denen ihnen diese Fragen nach Herkunft und Identität besonders wichtig sind, am besten unterstützen?

Jörg Maywald: Man muss vor allem sensibel für die Fragen der Kinder sein und Informationen so dosieren, wie sie das Kind einfordert. Das Interesse des Kindes sollte also die Anleitung sein.

Eltern fragen sich oft, wann sie dem Kind sagen sollen, dass es adoptiert ist.

Jörg Maywald: Die französische Therapeutin Françoise Dolto hat in einem Radiointerview auf diese Frage damit geantwortet, dass das Kind dies doch schon längst weiß. Es war schließlich dabei und stand im Mittelpunkt. Das Kind weiß zwar nicht, dass es dieses Wissen hat, aber es ist nicht wirklich eine Neuigkeit. Das Kind kann sein intuitives Wissen noch nicht in Worte fassen und braucht dafür die Hilfe der Erwachsenen.

Was ist Biografiearbeit und wie kann sie die Identitätsausbildung unterstützen?

Jörg Maywald: Biografiearbeit kann die Suche nach den Wurzeln strukturieren. Sie unterstützt das Kind dabei, seine eigene Lebensgeschichte für sich zu „erobern“ und dadurch Identität und Selbstsicherheit zu gewinnen. Mit der Biografiearbeit begleitet man die Kinder. Sie ist keine Therapie und setzt auch keine therapeutische Ausbildung voraus.

Wie sieht das konkret aus?

Jörg Maywald: Am Anfang steht, dass man all das wertschätzt und aufbewahrt, was das Kind mitbringt. Das können beispielsweise Gegenstände sein, die das Kind von der Herkunftsfamilie hat, und auch alle Informationen, die man über das Kind in Erfahrung bringen kann: Fotos, Adressen, die Geburtsklinik – all diese Informationen interessieren einen ja auch als Eltern. Wie genau man diese Puzzleteile des Lebensweges dann verarbeitet, ist vom Kind abhängig. Man kann zum Beispiel eine Collage machen, die den Lebensweg sichtbar macht. Oder man legt zusammen ein Erinnerungsbuch an, in dem man die Stationen und Informationen sammelt. Es gibt auch schon vorgefertigte Bücher, in die man Seiten einlegen kann oder bei denen man bestimmte Teile herausnehmen kann, wenn das Kind diese Fragen ausklammern will.

Wie geht man mit Informationen um, die schwer zu verarbeiten sind?

Jörg Maywald: Man kann mit einer sogenannten Coverstory arbeiten. Das bedeutet, dass man die wichtigsten Daten des Ereignisses in wahre, für das Kind je nach Alter verständliche Worte fasst. Ein Beispiel dafür wäre, wenn das Kind aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist und die leibliche Mutter deshalb nicht für das Kind da sein kann. Man kann diese Vorgeschichte in drei Sätze bringen: „Deine leibliche Mutter und dein leiblicher Vater haben sich nicht geliebt. Daraus kann aber auch ein Kind entstehen. Auch dieses Kind kann ein glücklicher, guter Mensch sein.“ Wenn man dem Kind diese Geschichte an die Hand gibt, sagt man ihm die Wahrheit und stärkt sein Selbstbild. Die Botschaft ist, dass die Vergangenheit zwar Narben hinterlässt, aber dass diese kein Brandmal für das Kind sind.

Wer sollte mit dem Kind die eigene Biografie erarbeiten?

Jörg Maywald: Hier sind vor allem die Personen gefragt, mit denen das Kind lebt. In der Biografiearbeit geht es ja nicht nur um die Vergangenheit, sondern eben auch um die gemeinsame Geschichte in der Adoptiv- oder Pflegefamilie. Gemeinsame Erlebnisse im Familienalltag und wichtige Ereignisse im Familienleben werden festgehalten. Und das Kind ist ja auch in die Familiengeschichte der Adoptivfamilie eingebunden. Es ist ein Wunschkind und zu seiner Lebensgeschichte gehört auch der Satz: „Es ist ein großes Glück, dass wir dich gefunden haben.“

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesfamilienministeriums im Rahmen des Magazins „Einblicke Adoption“ geführt.