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Familie, Struktur, Teilhabe 

Dr. Christian Erzberger erklärt, was Pflegeeltern erwartet, welche Unterstützung zählt - und warum Kontinuität, Auswahl und Zusammenarbeit der Schlüssel zum Gelingen sind. 

Möchten Sie Sich und Ihre Arbeit kurz vorstellen?  

Ich bin Diplom-Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, Diplom-Soziologe und Doktor der Philosophie. Nach elf Jahren in der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung an der Universität Bremen habe ich 1989 die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V. (GISS) mitgegründet und war dort bis 2024 im Vorstand und als Projektleiter tätig. Ich bin Mitgründer des Kompetenzzentrums Pflegekinder in Berlin, für das ich nun überwiegend tätig bin. Auch war ich Mitglied im Dialogforum "Pflegekinderhilfe", das unter anderem die stärkere Verankerung der Pflegekinderhilfe im Kinder und Jugendstärkungsgesetz unterstützt hat. Meine Schwerpunkte reichen von Evaluationen in der Jugendhilfe über Organisationsentwicklung und Beratung für Jugendämter und freie Träger bis zu Seminaren zur Struktur, Prozess und Qualitätsentwicklung. Zudem wirke ich an der bundesweiten CLSStudie (Care Leaver Statistics) mit, in der über Jahre bis zu 2000 CareLeaver aus Pflegefamilien und stationären Unterbringungen begleitet werden. 

Welche Vorteile bietet das Aufwachsen in einer Pflegefamilie für die Kinder, im Gegensatz zum Aufwachsen in einer Heimeinrichtung?   

Zunächst sollten beide Arten aufzuwachsen nicht gegeneinandergesetzt werden. Pflegefamilien und Heime sind keine Konkurrenz, sie erfüllen unterschiedliche Aufgaben. Jüngere Kinder - oft bis etwa zehn Jahre, inzwischen auch viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete - profitieren besonders von einem verlässlichen Alltag in einer "normalen" Familie: vertraute Bezugspersonen, die da sind, wenn es darauf ankommt, und Regeln, die flexibel und der Situation angemessen gelebt werden. Heime arbeiten professionell im Schichtbetrieb, meist für ältere Kinder und Jugendliche, mit klaren, oft schriftlich festgelegten Strukturen. Entscheidend ist nicht das Etikett, sondern die Passung: Welche Lebensform und Unterstützung passen zu den Bindungsbedürfnissen und zur konkreten Situation des Kindes? Es gibt auch kleine Kinder, für die eine Familie nicht die geeignete Form ist. Bitter ist es, wenn ein Kind eine Familie bräuchte, aber keine passenden Pflegepersonen gefunden werden und es deshalb in einer Einrichtung leben muss. 

Welche Rolle spielen die Jugendämter?

Gesetzlich ist die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII eine Hilfe zur Erziehung und damit beim Jugendamt verankert. Der Pflegekinderdienst ist typischerweise direkt im Jugendamt angesiedelt, er kann aber auch von einem freien Träger übernommen werden. So oder so liegt die Verantwortung am Ende beim Jugendamt. Zentral ist das Hilfeplanverfahren: In regelmäßigen Abständen setzen sich Fachkräfte des Pflegekinderdienstes und des Jugendamts mit den Pflegeeltern, den Eltern, je nach Alter auch mit dem Kind und weiteren Beteiligten zusammen. Man bespricht, wie es dem Kind geht, welche Unterstützung nötig ist und wie die Perspektive aussieht. Viele Dauerpflegen entstehen aus der Bereitschaftspflege: Das Kind wird kurzfristig aufgenommen, während das Jugendamt die soziale, psychische und körperliche Situation intensiv klärt. Je genauer diese Klärung, desto besser lassen sich passende Pflegepersonen auswählen und informieren. Grundsätzlich ist wichtig zu wissen, dass die Pflegekinderhilfe sich von der Adoption in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Zumindest in der ersten Zeit kann eine Rückführung möglich sein. Je länger ein Kind in der Pflegefamilie lebt und Bindungen aufgebaut hat, desto unwahrscheinlicher wird sie. Hilfeplangespräche prüfen fortlaufend, ob die Hilfe weiterhin notwendig und geeignet ist. 

Welche Herausforderungen bringen Pflegekinder mit in die Familien? 

Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können - manche kommen als Säuglinge direkt aus dem Krankenhaus in die Pflegefamilie -, haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Sie brauchen Aufmerksamkeit, Zeit und passgenaue Unterstützung. Pflegeeltern werden dabei von Fachkräften begleitet und profitieren von Vorbereitung und Beratung. Es hilft, mit viel Toleranz, Geduld und Humor in den Familienalltag zu gehen. Was anfangs "besonders" wirkt, wird mit der Zeit zur Normalität und kann das Familienleben sogar bereichern. Manchmal ist die Außenperspektive herausfordernd: Pflegefamilien erleben viel Anerkennung, aber auch Unverständnis. Ein selbstbewusstes, gelassenes Auftreten ist hilfreich - Pflegefamilien leisten einen wichtigen Dienst, vor allem schenken sie Kindern einen sicheren Ort und Zugang zu verlässlichen sozialen Netzen. Leider erleben Pflegekinder bisweilen Diskriminierung, etwa in Schulen oder Vereinen. Dann heißt es, die Kinder zu stärken und Einrichtungen zu sensibilisieren. Und: Die Herkunftseltern bleiben Teil der Geschichte. Kontakte und Kommunikation sind nicht immer einfach, können aber das Pflegeverhältnis stabilisieren. Über allem steht das Ziel, Kindern trotz - und gerade wegen - ihrer Benachteiligungen Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. 

Welche spezifischen Unterstützungen benötigen Pflegekinder? 

Es gibt immer Gründe, warum die Kinder nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. Unterstützung ist immer individuell. Es gibt Kinder mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Ausprägungen und auch solche mit psychischen Beeinträchtigungen, etwa durch Traumatisierungen. Besonders häufig ist eine FASDDiagnose (Fetal Alcohol Spectrum Disorders - Fetale Alkoholspektrumsstörung) bei den Kindern. Entwicklung und Verhalten sind hier nicht immer vorhersehbar, entsprechend breit ist das Spektrum möglicher Hilfen. Unverzichtbar ist ein fester, sicherer Lebensort, der Teilhabe ermöglicht. Pflegekinderdienste bereiten Pflegeeltern vor, informieren über Bedarfe und begleiten eng. Sorgfältige Auswahl und passgenaue Vermittlung sind zentral - damit das Kind Heimat findet und die Pflegefamilie eine langfristige Perspektive hat. 

Eignet sich das Modell Pflegefamilie auch für unterschiedliche Lebensentwürfe?  

Ja, unbedingt. Neben klassischen Konstellationen gibt es heute viele Modelle: gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Alleinerziehende - mit einer elterngeldanalogen Unterstützung im ersten Pflegejahr -, Patchworkfamilien und mehr. Maßgeblich ist allein, ob der Lebensentwurf zum Kind passt und auf Verlässlichkeit angelegt ist. Viele Pflegekinder haben Brüche erlebt; weitere Diskontinuitäten sollten unbedingt vermieden werden. 

Welche Rolle spielen die Eltern der Kinder bei der Durchführung der Hilfe? 

Die Eltern bleiben Eltern. Ihre Rolle ändert sich: Sie haben ein Kind "verloren" und erleben oft Schuld und Scham. Wenn sie sehen, dass es dem Kind in der Pflegefamilie gut geht, kann Konkurrenz entstehen - beim Kind wiederum Loyalitätskonflikte. Ein kompletter Ausschluss der Eltern (was nur selten bei akuter Kindeswohlgefährdung nötig ist) führt oft dazu, dass sie idealisiert werden. Standard sind Umgangskontakte, begleitet von Fachkräften, in geschützter oder öffentlicher Umgebung. Das Gesetz fordert inzwischen stärker eine eigenständige Arbeit mit Eltern; viele Jugendämter und Träger bieten dafür Formate wie Cafés für Eltern und Pflegeeltern oder Gruppenangebote an. Ziel ist, Eltern zur Akzeptanz oder sogar aktiven Begleitung des Pflegeverhältnisses zu befähigen. Das spüren Kinder und Pflegefamilien direkt: Loyalitätskonflikte nehmen ab, Zusammenarbeit wird stabiler. Für Pflegeeltern gehören Kontakte zu den Eltern dazu - die fachliche Gestaltung liegt primär beim Pflegekinderdienst. 

Wie werden Pflegeeltern unterstützt - und was erwartet sie im Alltag?  

Ein Pflegekind aufzunehmen ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe und oft auch ein Abenteuer, denn manches zeigt sich erst im Verlauf. Die Pflegeeltern sind jedoch nicht allein: Der Pflegekinderdienst begleitet, hilft bei der Integration, vermittelt bei Bedarf Therapien und sorgt bei Überlastung frühzeitig für Entlastung. Fortschritte kommen oft langsam, dafür sind sie umso sichtbarer - getragen von Sicherheit und Beständigkeit. Ein Satz eines Kindes auf einer Bergwanderung bringt das gut auf den Punkt: "Je höher wir in die Berge wandern, desto bewusster empfinde ich Dankbarkeit gegenüber meinen Pflegeeltern." 

Welchen Rat geben Sie Menschen, die über die Pflegeelternschaft nachdenken und sich noch nicht entschieden haben? 

Informieren Sie sich gründlich und sprechen Sie mit dem örtlichen Pflegekinderdienst oder Jugendamt, besuchen Sie Infoveranstaltungen und holen Sie sich Erfahrungen aus erster Hand bei Pflegefamilien. Binden Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner ein; wenn eigene Kinder da sind, reden Sie offen über das Vorhaben und die Veränderungen und nehmen Sie sie gern zu Terminen mit. Verstehen Sie Pflegeelternschaft als langfristiges Engagement fürs Kind: Auch wenn es finanzielle Leistungen gibt, stehen Entwicklung, Förderung und Teilhabe des Kindes im Vordergrund - auch bei Beeinträchtigungen. Neugier, Geduld, Offenheit und Humor sind gute Begleiter. Beziehungen zu Pflegekindern sind besonders und tragen oft über die Hilfezeit hinaus.  

Und wichtig: Sie werden nicht allein gelassen. Unterstützung ist in der Regel nur einen Anruf entfernt. Pflege ist ein institutionell gut abgesichertes Abenteuer - und eine große soziale Leistung für unsere Gesellschaft. 

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) im Rahmen der Kampagne "Zeit, die prägt" geführt.