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Kind sein dürfen

Als ehemaliges Pflegekind gibt I.J. heute ihrer Tochter einen sicheren Hafen, verlässliche Grenzen und viel Zeit zum Kindsein.  

Hinweis zur Anonymität: Die Interviewpartnerin wünscht die Veröffentlichung unter ihren Initialen (I.J.). Die Identität der Interviewpartnerin ist dem BMBFSFJ bekannt. 

Möchten Sie sich kurz vorstellen?  

Ich bin I.J., 65 Jahre alt, alleinerziehend und im Ruhestand. Meine Pflegetochter ist fast 13 und lebt seit knapp drei Jahren bei mir. Zuvor war ich viele Jahre in der Pflege tätig, zuletzt als Pflegedienstleitung. Heute habe ich die Zeit und Ruhe, unseren Alltag zu tragen - Termine, Schule, Freundschaften, Therapie, und das ganz Normale dazwischen.  

Was hat Sie grundsätzlich dazu bewegt, Pflegemutter zu werden?  

Ich bin selbst als Pflegekind groß geworden. Meine Kindheit war von Brüchen, Traumata und belastenden Erfahrungen geprägt, und damals fühlte ich mich vom System oft nicht gesehen. Heute ist vieles anders: Es gibt feste Hilfeplangespräche, klare Zuständigkeiten und auch die Kinder haben Ansprechpartner. Gerade weil ich weiß, wie wichtig verlässliche Bindung und echtes Zuhören sind, wollte ich einem Kind ein stabiles, liebevolles Zuhause geben - mit Geduld, Struktur und Herz.  

Gab es einen initialen Moment, an dem Sie gesagt haben: "Jetzt mache ich das"?  

Es gab mehrere Stationen. Mit 24 bekam ich die Diagnose, dass ich keine leiblichen Kinder bekommen könne - das war hart, ich wäre gerne Mutter geworden. Gleichzeitig war die gesellschaftliche Lage damals so, dass ich als lesbische Frau lange gebraucht habe, zu mir zu stehen. Später, als ich berentet war und mich körperlich wieder stabil fühlte, kam der Gedanke zurück: Ich habe Zeit, Erfahrung und - ganz wichtig - Platz im Herzen. Der Entschluss hat sich über die Jahre geformt. Und irgendwann sah ich eine kleine, grün umrandete Anzeige: "Wir suchen Pflegeeltern." Da war es. Ich habe im Jugendamt angerufen, meine Geschichte erzählt - und sie sagten: "Kein Thema, wir kommen und schauen." Sie waren zweimal hier. So wurde ich zugelassen und zur Schulung eingeladen. 

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Aufnahme wichtig?  

Ich habe klar benannt, was für mich passt: ein Kind ab etwa zehn Jahren, keine Kurzzeit- sondern Dauerpflege, mit der Perspektive, gemeinsam bis ins Erwachsenenleben zu gehen - sofern das Kind das möchte und die Rahmenbedingungen es erlauben. Als Rentnerin kann ich den hohen Zeitbedarf tragen: Arzttermine, Therapien, Schule, Sport, Kontakte. Das wird oft unterschätzt. Mir ist wichtig, dass es keine pauschalen Altersgrenzen gibt. Entscheidend sollte sein, ob jemand gesund, verlässlich und lebenspraktisch geeignet ist - "fit wie ein Turnschuh" genügt als Kriterium nicht. Ich sage: Schaut auf die Person, nicht auf die Jahreszahl. 

Wie lief die Vorbereitung - und wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt?  

Die Vorbereitung war gründlich und hilfreich: Ich habe viel gelernt über den rechtlichen Rahmen, die Pflichten und Rechte als Pflegemama, die typischen Bedarfe von Kindern, zum Beispiel nach traumatischen Erfahrungen. Man bekommt Material, Schulungen und klare Ansprechpartner. Positiv ist, dass Pflegekinder heute in strukturierten Gesprächen selbst zu Wort kommen und wissen, an wen sie sich wenden können: Man wird regelmäßig zu Gesprächen eingeladen. Da gibt es einen Fragebogen, in dem das Kind in Farben die Menschen um sich herum einordnet. In Sprechblasen kann das Kind begründen, warum. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - was ich sehr schön finde - werden Kinder belehrt, dass sie Ansprechpartner haben. Sie bekommen einen kleinen Ordner mit den Telefonnummern der Kontaktpersonen. In unserem Fall sind das der Vormund, eine Mitarbeiterin des Jugendamts und Familienhilfe (weil der Elternkontakt zur Mutter begleitet wird). Solche Dinge gab es früher nicht. In unserem Alltag erlebe ich verlässliche Sachbearbeitung, die Bereitschaft, psychologische Hilfe einzubinden und Hilfeplangespräche, die wirklich die Entwicklung sichtbar machen und begleiten. Wenn die Abstimmung zwischen verschiedenen Stellen einmal hakelig ist, versuche ich gemeinsam mit anderen Pflegeeltern konstruktiv Veränderungen anzustoßen. 

Welche Veränderungen hat die Pflegeelternschaft in Ihrem Alltag bewirkt? 

Pflegefamilie heißt: Wir sind Teil eines größeren Systems. Es gibt Termine mit Fachkräften, Berichte, Hausbesuche und die begleitete Beziehung zur Herkunftsfamilie. Gleichzeitig ist unser Leben sehr normal: Frühstück, Schule, Hausaufgaben, Puzzeln, Reittherapie, Schneeballschlachten im Winter. Meine Tochter hat in ihrem Leben viel erlebt und musste erst einmal "Kind sein" lernen. Heute kann sie sich konzentrieren, Verantwortung übernehmen und hat Rituale, die Sicherheit geben. Die Pubertät gehört natürlich dazu - mit allen Stimmungslagen. Wichtig ist, gelassen zu bleiben, präsent zu sein und immer wieder zu zeigen: Du wirst gesehen und bist angenommen. 

Können Sie eine Ihrer schönsten Erinnerungen mit Ihrer Pflegetochter teilen?  

Der Moment, als sie mich in den Arm nahm und sagte: "Ich hab dich lieb." Für mich war das wie Applaus auf einer Bühne - nicht wegen der Worte, sondern wegen des Vertrauens dahinter. Solche Augenblicke entstehen auch im Kleinen: Sie kommt von der Schule und erzählt in einem Zug alles, was sie bewegt. Oder sie stellt beim Frühstück eine ganz direkte Frage, weil sie spürt: Hier darf ich offen sein. Es berührt mich, wenn ich sehe, wie sie Verantwortung übernimmt - ob für unsere Tiere im Außengehege oder bei Aufgaben in der Schule. Das sind Zeichen dafür, dass Sicherheit und Bindung greifen.  

Welche Herausforderungen erleben Sie - und wie gehen Sie damit um?  

Kinder bringen ihre Geschichte mit. Das bedeutet: mehr Termin- und Koordinationsaufwand, gezielte Förderung und manchmal heftige Gefühlswellen. Meine Tochter hatte in der Vergangenheit mehrfach wechselnde Wohn- und Lebensverhältnisse, das hinterlässt Spuren. Ich versuche, Respekt gegenüber der Herkunftsfamilie zu leben, denn auch dieser Teil ihrer Geschichte ist und bleibt bedeutsam. Gleichzeitig setze ich klare, liebevolle Grenzen und halte Verlässlichkeit hoch. Und ich organisiere mich mit anderen Pflegeeltern, um Erfahrungen zu teilen und strukturelle Themen gemeinsam anzusprechen.  

Wie hat Ihre eigene Vergangenheit Ihre Haltung als Pflegemutter geprägt?  

Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man als Kind nicht gefragt wird, wie es einem geht. Deshalb ist "gesehen werden" aus meiner Sicht zentral. Ich habe nicht vergessen, was man mir angetan hat - und nicht vergessen, was ich aus mir gemacht habe. Ich bin durch mein Schicksal stark geworden und habe mir und anderen beweisen wollen, dass Prophezeiungen nicht bestimmen, wer ich bin. Heute zeigt mir mein Pflegekind jeden Tag, wie ich die Welt mit Kinderaugen sehen kann. Sie lässt mich nicht vergessen, wie schön Kindheit sein kann - Schlittenfahren, Schneeballschlachten und nach einem schwierigen Tag sich abends in den Arm nehmen und sich gegenseitig sagen: "Gute Nacht, träum schön."

Sie engagieren sich auch über den Familienalltag hinaus. Warum?  

Ich erlebe, dass die Abstimmung zwischen verschiedenen Stellen manchmal nicht rund läuft. Gemeinsam mit anderen Pflegeeltern engagiere ich mich in einer Gruppe, um diese Themen auf Augenhöhe mit den Verantwortlichen anzusprechen: bessere Koordination, klare Wege, praktikable Entlastungen. Es geht nicht um Kritik um der Kritik willen, sondern darum, das System für Kinder und Familien verlässlich zu machen. 

Was würden Sie Menschen sagen, die überlegen, Pflegeeltern zu werden, aber unsicher sind?  

Zweifel sind normal und sogar gesund. Informieren Sie sich gründlich, sprechen Sie mit dem Pflegekinderdienst und mit anderen Pflegefamilien. Fragen Sie sich ehrlich: Was kann ich geben? Wo sind meine Grenzen? Habe ich Stabilität, Zeit und - vor allem - Platz im Herzen? Pflegekinder brauchen keine perfekten Menschen, sondern verlässliche Erwachsene, die bleiben - auch in schwierigen Phasen. Man geht diesen Weg nicht allein: Es gibt Begleitung, Unterstützung und Ansprechpartner. Vieles wirkt am Anfang kompliziert; am Ende schenkt es Sinn, Nähe und oft ein neues Verständnis von Familie. Und ja: Kinder sind unsere Zukunft. Je mehr wir heute investieren, desto sicherer wird ihre Zukunft morgen. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Pflegekinderhilfe?  

Mehr Aufklärung und Wertschätzung für Pflegefamilien, eine gute, möglichst bundeseinheitliche Praxis ohne pauschale Altersgrenzen für Pflegeeltern, und eine noch bessere Abstimmung zwischen den beteiligten Stellen. Vor allem wünsche ich mir, dass Kinder verlässlich Menschen an ihrer Seite haben, die ihnen Sicherheit geben - und dass wir als Pflegeeltern dafür die passenden Rahmenbedingungen bekommen. Eine andere Pflegemama hat mal gesagt: "Es gibt Tage, da ist alles drunter und drüber, und man fragt sich abends, wo der Tag geblieben ist. Und dann gibt es diese Tage, an denen alles glücklich läuft - und ich möchte keinen dieser Tage missen." Dem kann ich nur zustimmen.  

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) im Rahmen der Kampagne "Zeit, die prägt" geführt.