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Zwischen Bindung und System

Sonja Möller leitet den Pflegekinderdienst Braunschweig und sagt: "Jedes Kind hat ein Recht auf Familie". Vorbereitung, psychologischer Dienst und klare Abläufe sollen eines sichern: stabile Bindungen - und gute Zusammenarbeit, wenn Wege schwierig sind.

Möchten Sie Sich und Ihre Arbeit kurz vorstellen? 

Ich heiße Sonja Möller, bin 54 und komme aus Slowenien. Weil mein Ehemann auch nach einigen Jahren kein Slowenisch sprechen konnte, entschieden wir vor 25 Jahren in Deutschland zu leben. Zu meinem Master in Wirtschaftswissenschaften habe ich später einen Bachelor in Sozialer Arbeit ergänzt - so bin ich zum Pflegekinderdienst der Stadt Braunschweig gekommen. Heute leite ich den Dienst. Wegen unserer Größe habe ich keine eigenen Fälle, sondern schaffe für 15 Kolleginnen gute Rahmenbedingungen, damit sie Kinder, Eltern und Pflegeeltern verlässlich begleiten können. In der Bereitschaftspflege sorgen wir dafür, dass auf die Kinder, die in Obhut genommen werden müssen, sichere Orte und liebevolle Erwachsene warten.

Welche Unterstützung bieten Sie Pflegefamilien - von der Vorbereitung bis zum Alltag mit dem Kind?

Es ist uns wichtig, für unsere Pflegefamilien da zu sein. Wir führen die gesamten Vorbereitungsprozesse komplett selbst durch, um zukünftige Pflegeeltern gut kennenzulernen und in unterschiedlichen Situationen zu erleben. Erste Anlaufstelle zu sein, wenn es nicht gut läuft, ist uns wichtig. Die wichtigste Unterstützungsform ist die Beratung: Wir betreuen über 200 Pflegefamilien und verfügen somit im Team über einen großen Erfahrungsschatz, den wir den Familien gerne zur Verfügung stellen. Wir bieten Vorträge im Rahmen der Pflegeelternakademie an und organisieren Veranstaltungen, um Kontakte zu knüpfen und den Austausch zu ermöglichen. Der Pflegekinderdienst in Braunschweig hat einen eigenen psychologischen Dienst. Die Psychologin wird bereits in die Vorbereitungsprozesse eingebunden, um die Hürde, psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, so niedrig wie möglich zu halten. Ambulante Hilfen können gewährt werden. Wenn eine Auszeit benötigt wird, greifen wir meist auf Bereitschaftsfamilien zurück.

Welche Vorteile bietet das Aufwachsen in einer Pflegefamilie für die Kinder, im Gegensatz zum Aufwachsen in einer Heimeinrichtung?  

Beides hat seinen Platz, wenn die Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht für ihre Kinder sorgen können und eine stationäre Unterbringung notwendig ist; je nach Alter, Geschichte und Belastung des Kindes. So ist es wichtig zu betonen, dass beide Formen der stationären Unterbringung notwendig sind, um die für jedes Kind beste Lösung zu finden. Und dennoch hat jedes Kind das Recht auf Familie. Die Bindung gehört zu den Grundbedürfnissen eines Kindes: Pflegeeltern sind feinfühlig und verlässlich da - rund um die Uhr. So entstehen neue Bindungen und korrigierende Erfahrungen. Kontinuität und Verlässlichkeit prägen positiv und lassen sich im Schichtsystem einer Einrichtung nur begrenzt herstellen.

Können Sie von einer Situation berichten, in der Pflegeeltern und Jugendamt gemeinsam eine schwierige Phase gut gemeistert haben?

Unsere Dienstbesprechungen beginnen mit den "Highlights der Woche". Das stärkt den Blick für Fortschritte. Wir freuen uns gemeinsam, wenn es uns gelingt, für die Kinder, die einen besonders schwierigen Start ins Leben hatten, eine passende Familie zu finden. Eine Kollegin berichtete von einem kleinen Mädchen, das nach einem Besuchskontakt in der Mitte ging - an jeder Hand eine Mutter. Die leibliche Mutter war zunächst gegen die Pflegefamilie. Durch Elternarbeit konnte sie Trauer und Verletzung einordnen und ihrer Tochter aktiv die Erlaubnis geben, in der Pflegefamilie aufzuwachsen. Solche Momente zeigen, was gemeinsame Arbeit bewirken kann.

Welche typischen Sorgen oder Vorbehalte hören Sie oft - und wie reagieren Sie darauf?

Für das Finden neuer Pflegeeltern ist die größte Hürde die Überzeugung der Gesellschaft, dass die Pflegekinder jederzeit aus den Familien genommen werden können. Häufig lautet der Satz: "Pflegemutter könnte ich nicht werden - ich würde eine plötzliche Trennung nicht aushalten." In solchen Momenten versuche ich aufzuklären, wie umfangreich die Perspektivklärungsprozesse gestaltet werden und, dass einer Trennung von Eltern und Kind in der Regel intensive Bemühungen im Rahmen der Frühen Hilfen, ambulanter Hilfe zur Erziehung und/oder Mutter/Vater-Kind Einrichtung vorausgehen.

Missverständnisse gibt es auch beim Gedanken "einer anderen Mutter das Kind wegnehmen". In der Mitte der Gesellschaft ist unvorstellbar, wie manche Familien durch eine Häufung von Unterversorgungslagen gekennzeichnet sind und dass es Eltern gibt, die es auch bei umfangreicher Unterstützung nicht schaffen, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern. Auch an dieser Stelle nehmen wir uns Zeit und berichten über die Lebenswelten der Eltern, die nicht gemeinsam mit ihren Kindern leben können. Wenn man nicht im sozialen Bereich arbeitet, kann man sich nicht vorstellen, wie vielfach die psychosozialen Belastungen sein können.

Was sind aus Ihrer Erfahrung die häufigsten Beweggründe von Menschen, Pflegeeltern zu werden?

Die Beweggründe sind sehr unterschiedlich und werden in den Vorbereitungsprozessen intensiv reflektiert und hinterfragt. Unterschiedliche Motive beeinflussen unsere Vorbereitungsprozesse und die Arbeit mit Familien. Aus unserer Erfahrung ist es wichtig, einen tiefen Wunsch zu haben, mit Kindern zu leben. Ob das bedeutet, dass man einen unerfüllten Kinderwunsch hat, man sich Geschwister für die leiblichen Kinder wünscht oder noch Platz am Esstisch hat, ist zweitrangig. Allein "etwas Gutes tun" zu wollen, trägt selten über Jahre. Die Aufnahme eines Pflegekindes verändert den Alltag grundlegend. Bricht das Engagement weg, wäre das ein weiterer Bruch in der Lebensgeschichte des Kindes - dieses Risiko wollen wir vermeiden.

Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft der Pflegekinderarbeit?

Ich wünsche mir die Aufklärung der Gesellschaft, damit die Pflegeeltern die Wertschätzung und Unterstützung erfahren, die notwendig ist, um diese gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Eine Stärkung des Stellenwerts der Pflegekinderhilfe - sie kann Leben nachhaltig verändern und wirkt sogar positiv auf kommunale Haushalte. Für unseren Dienst wünsche ich mir weiterhin gute Arbeitsbedingungen, um Kinder, Eltern und Pflegeeltern verlässlich zu begleiten. Unser Beitrag zum Kinderschutznetz mit Bereitschafts- und Dauerpflegeplätzen wird anerkannt. Ich wünsche mir, dass dieser Weg weiterverfolgt wird.

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) im Rahmen der Kampagne "Zeit, die prägt" geführt.