Navigation

Zeit, Regeln & Rückhalt

Can kam mit neun in seine Pflegefamilie: "Sie gaben mir Zeit - und blieben." Zwischen Montessori‑Schule, Pfadfindern und klaren Regeln zuhause fand er Halt. Heute arbeitet er als Anästhesiepfleger.  

Hinweis zur Anonymität: Der Interviewpartner wünscht die Veröffentlichung unter seinem Vornamen. Die Identität des Interviewpartners ist dem BMBFSFJ bekannt. 

Möchtest du dich kurz vorstellen?  

Ich bin Can, 27, lebe in Münster und arbeite als Anästhesiepfleger. Mit etwa sechs bin ich aus meiner Ursprungsfamilie herausgenommen worden, war mehrere Jahre im Heim und bin mit neun zu meiner Pflegefamilie gekommen. Für mich sind das bis heute "meine Eltern". Beruflich bin ich über die zweijährige Ausbildung zum Sozialassistenten gegangen. Danach stand innerlich fast ein Münzwurf an: Koch oder Medizin. Ich habe mich für die Krankenpflege entschieden, drei Jahre Ausbildung gemacht und das Examen abgelegt - vor der schriftlichen Prüfung hatte ich großen Respekt, mündlich und praktisch war ich immer stark. Es folgte ein Orientierungsjahr im Krankenhaus, am Ende bin ich in der Anästhesie gelandet.  

Wie erinnerst du dich an das Kennenlernen und den Übergang in deine Pflegefamilie?  

Prägnanter als der Umzug war das erste Kennenlernen. Es trafen zwei völlig verschiedene Welten aufeinander, die sich annähern mussten. Mein Pflegevater war so aufgeregt, dass er kaum geschlafen hat und nur gegähnt hat; meine Pflegemutter war verlegen - es war insgesamt sehr niedlich. Für mich war aber am wichtigsten: Egal, wie sich der andere benahm, sie waren liebevoll zueinander. Über etwa ein Jahr kamen sie regelmäßig zu mir ins Heim: unter der Woche mein Vater, am Wochenende beide. Ihnen war wichtig, dass ich tierlieb bin - deswegen brachten sie zu einem ihrer Besuche auch Sammy und Sleepy mit, zwei wunderbare Hunde. Ich habe mich sofort "schockverliebt". Bis ich sie fragte, ob sie sich vorstellen könnten, ein Kind aufzunehmen, war ich unsicher, ob es überhaupt klappt. Ich hatte zwei Seiten: die nette, aufmerksame und freundliche - und die wütende. Ich konnte sehr wütend werden, traumabedingt. Das konnten nicht alle aushalten. Mein Papa machte dann einen Witz, wir redeten hin und her, und sie sagten: "Ja, wir können uns das vorstellen." Ich habe mich wahnsinnig gefreut. 

Was haben deine Pflegeeltern aus deiner Sicht von Anfang an "richtig" gemacht?  

Sie haben mir Zeit gegeben - und das Gefühl, dass sie, egal was ich mache, an meiner Seite stehen und mich lieben. Vor meinem ersten "Ausraster" war ich unsicher, ob das so bleibt. Aber Geduld und Zeit haben bewiesen, dass ich Familie annehmen darf und kann. Das hat es ausgemacht. 

Deine Kindheit war von Brüchen geprägt. Wie hast du dich stabilisiert? 

In der Ursprungsfamilie gab es im Grunde nur eine "Regel": Halt dich zurück und mach genau, was ich sage. Im Heim habe ich Regeln gelernt, bei meinen Eltern dann "richtig". Klar, Regeln nerven Kinder. Aber sie haben mir Struktur gegeben - ich konnte mich organisieren. Das war wichtig. 

Du sprichst offen über Wut und Ausraster. Wie hat sich das entwickelt - und was hat geholfen?  

Es gab viele Höhen und Tiefen. Es gab Momente, in denen es schwer war - für mich und damit auch für meine Eltern. Kommunikation war nicht immer einfach, ich konnte mich nicht gut mitteilen. Es gab Phasen, in denen ich viel mit mir allein war und mich nicht verstand - rund um Feiertage, Geburtstage, Weihnachten, Ferien. Das hat mich überfordert. Irgendwann hörte es von null auf hundert auf, weil für mich klar war: So komme ich nicht weiter, ich falle zurück. Es war eine schwere Zeit, auch für meine Eltern. Sie blieben da, gaben Raum und Zeit, sprachen Dinge an, wenn es ging. Man muss nicht immer handeln: Manchmal reicht es, in der Ecke zu sitzen, das Kind ausrasten zu lassen, zu warten - und dann das Angebot zu machen, zu reden. Dieses "Wir sind noch da und werden auch immer da sein" war entscheidend. 

 Welche Unterstützung außerhalb der Familie war wichtig?  

Die Diakonie stand mir zur Seite. Später kam ein Psychologe dazu, mit dem ich regelmäßig sprechen konnte. Wichtig war: Er ließ mich reden und nahm meine Gefühle ernst. Dazu kamen weitere Menschen: Patenfamilie, Freundinnen und Freunde und vor allem meine neuen Großeltern. Sie haben mich ohne Zögern angenommen und haben sofort gesagt: "Das ist unser Enkelkind."

Wie war die Schulzeit für dich?  

Meine Schulzeit war chaotisch und vor allem anfangs geprägt von Mobbing. Es hat lange gebraucht, bis ich Freunde fand. Auf einer Montessori-Schule habe ich mich dann gut eingefunden. Wichtigster Punkt dort: die Zeit, die man mir dort gegeben hat. Eigenständig lernen, eigene Strukturen entwickeln - das musste ich erst lernen. Ich habe dort außerdem gelernt, selbst strukturiert zu lernen. Mathe, Chemie, Physik lagen mir; Deutsch und Englisch waren schwieriger und bei mir wurde zudem eine Lese-Rechtschreibschwäche diagnostiziert. Eine klare Trennung hat mir insgesamt geholfen: Schule ist Schule, zu Hause ist zu Hause. In der Berufsschule musste ich mir Disziplin beibringen. Ich habe gelernt im Unterricht gut aufzupassen, damit ich weniger nacharbeiten muss, weil das für mich einfach besser funktioniert.  

Wie war es mit Gleichaltrigen - gab es Vorurteile?  

Bei den Pfadfindern habe ich einen "coolen Ort" gefunden, um neue Strukturen zu lernen. In der Schule war es schwieriger: Es gab Provokationen und manchmal Sticheleien - da bin ich oft aneinandergeraten. Bei den Pfadfindern seltener, aber es kam vor. Wichtig war, mir Räume zu schaffen, in denen ich mich sicher fühlte. 

Du sprichst von deiner Lese-Rechtschreibschwäche auch als "unsichtbarer Behinderung". Was wünschst du dir von Gesellschaft und dem Hilfesystem?  

Akzeptanz - für sichtbare und unsichtbare Beeinträchtigungen. Auch psychische Belastungen wie mein Trauma sind nicht sichtbar. Kinder brauchen Strukturen und Möglichkeiten, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen - mit ihren Stärken und ihren Schwächen. Und wenn es "nur eine Sache" ist, mit der sie brillieren: egal. Lasst sie damit glänzen. 

Was würdest du Pflegekindern sagen, die in eine neue Familie kommen?  

Sucht gemeinsam einen sicheren Hafen. Nehmt euch Zeit - für Entwicklung, für Vertrauen. Und ja: Am Ende müsst ihr auch selbst arbeiten, man kann sich nicht alles in die Wiege legen lassen. Aber wenn die richtigen Menschen an eurer Seite sind, ist vieles möglich. 

Und was würdest du Menschen sagen, die überlegen, Pflegeeltern zu werden?  

Mit offenem Herzen rangehen, Kinder nicht "abfrühstücken" - Zeit nehmen und dranbleiben. Zuhören reicht manchmal schon. Es braucht "liebevolle Strenge" und Regeln. Und es braucht Geduld und Zeit. Jedes Kind hat eine eigene Geschichte; manchmal arbeitet man mit der Herkunftsfamilie zusammen, manchmal gibt es keinen Kontakt. Entscheidend ist, verlässlich zu bleiben. 

Wo stehst du heute?  

Meine Geschichte ist lang - die kann man nicht komplett zusammenfassen. Der Anfang lässt sich erzählen. Heute bin ich 27, lebe in meiner eigenen Wohnung, bin Anästhesiepfleger - und finde meinen Weg.  

Das Interview wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) im Rahmen der Kampagne "Zeit, die prägt" geführt.